Seufzend biss sie sich auf ihre Lippen, sie waren so trocken.
Ihre wunderschönen blauen Augen starrten eindringlich auf das Bild, das sie fast schon verzweifelt in ihren Händen hielt. Weiß traten ihre Knöchel hervor, so groß war der Druck, mit dem sie das Bild umklammerte. Erst langsam ließ er nach, aus Angst sie könnte den Bilderrahmen zerstören und so die letzte Erinnerung ruinieren. Stattdessen führte sie jetzt ihre Fingerspitze langsam, vorsichtig und fast schon zärtlich an den Konturen des männlichen Gesichtes entlang, doch berührte sie dabei nicht wie sonst seine warme Haut, seine kurzen Bartstoppeln; sondern bloß eine kühle, dünne Glasscheibe, die sie von dem eigentlichen Bild trennte. Doch, und das wusste sie, war das, was in Wirklichkeit zwischen ihr und ihrem Geliebten stand, viel mehr als das.
Immer noch kam es ihr unglaublich vor. Immer noch war mit diesem Verlust so viel grausame Qual verbunden. Es war ihr, als klaffte ein riesiges Loch in ihrer Brust; dort wo ihr Herz saß und lebendig, schnell geschlagen und Blut durch ihren Körper gepumpt hatte, waren jetzt dumpfe Schmerzen, die sie paralysierten, die sie aus dem alltäglichen Takt brachten. Die junge Frau fühlte sich leer, antriebslos. Sie fühlte sich, als sei sie in einem Alptraum, aus dem man nicht mehr aufwachen konnte, der einen gefangen hielt oder zumindest jedes Mal aufs Neue einholte.
Er war tot.
Und er würde nicht wiederkehren. Schmerzerfüllt stellte sie Tag ein und Tag aus fest, was sie im Grunde doch schon lange wusste. Und immer stand sie so vor der kleinen Kommode, das Bild des verstorbenen Mannes in der Hand haltend; wartend, dass erneut ihre schrecklichen Ängste und ihr ganzer Kummer schmerzvoll wie eisig wallende Wellen aufkommen, auf sie niederschlagen und sie in die Tiefe ihres Elends reißen würden.
Und wieder stellte sie mit den zitternden Händen das Bild zurück, denn ihre Beine erschienen ihr schon wie gewohnt weich. Ja, allmählich würde sie den Halt wieder verlieren oder zumindest den kläglichen Rest, der übrig war, denn eine starke Schulter – seine starke Schulter – war schon lange nicht mehr da. Wankend trat sie drei Schritte zurück, taumelnd stolperte sie zwei weitere, doch schließlich fiel sie nach hinten, stieß an das Bücherregal und sackte an diesem zusammen, welches ächzend knarrte. Feine Staubwölkchen rieselten nieder und mit ihnen auch ein Zettel, den die junge Frau, unterjocht von ihrem quälenden Verlust jedoch so gar nicht erst bemerken konnte.
Ihre Hände berührten nunmehr den kalten Boden. Ihr gesenkter Kopf schien schwer wie Blei, blonde, teils lockige Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, das Loch in ihrer Brust gab wieder die erdrückende Leere frei; ihre Seele blutete.
Große, salzige Tränen liefen über ihre rosigen Wangen, sie presste die weiterhin trockenen Lippen aufeinander so fest es ging. Nun zitterten nicht mehr nur ihre Beine, ihr ganzer Körper bebte verzweifelt und hoffnungslos fanden unterdrückte Schluchzer ihren Weg; klagend, über das Leid, dass ihr durch seinen Tod widerfahren war. Jede einzelne Träne tropfte auf das Holz unter ihr, sie vergrub die Finger nun in ihrem Hemd und presste die Hand krampfhaft auf ihre linke Brust. Laut und gequält unterdrückte sie das Schluchzen nun nicht mehr, das bittere Klagen der jungen Frau war nun nicht mehr zu überhören.
Dabei sah sie nicht den Zettel, der nur eine Armlänge entfernt zu Boden geglitten war und hilflos scheinend im seichten Wind, der durch das geöffnete Zimmerfenster drang, wippte.
Vielleicht wäre es ein schwacher Trost gewesen.
„Weine nicht, mein Engel“ stand auf ihm geschrieben. „Wir werden uns wieder sehen.“